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2019 | 40 | 129-138

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„Bitte betrachten sie mich als einen Traum.“ Sprache und Identität in Hamid Sadrs „Gesprächszettel an Dora“

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“BITTE BETRACHTEN SIE MICH ALS EINEN TRAUM“. LANGUAGE AND IDENTITY IN HAMID SADRS GESPRÄCHSZETTEL AN DORA

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Wie Jacques Derrida u. a. in Die Einsprachigkeit des Anderen oder Die ursprüngliche Prothese zeigt, ist jeder Mensch immer schon mehrsprachig. Wenn wir diesen Zustand der Nicht-Einsprachigkeit als ein allgemein-menschliches Phänomen begreifen, und dazu eignet sich die sogenannte exophone Literatur besonders, dann hilft uns das zu verstehen, dass das Fremd-Sein eines/einer Fremden zu befragen immer zugleich bedeutet, auch unser eigenes Fremd-Sein zu befragen, dann wird die Frage nach dem Fremden zur Frage der eigenen Identität. Um dies zu zeigen, lese ich Hamid Sadrs Gesprächszettel an Dora (1994) parallel zu und mit Derridas Konzept von Ein- und Mehrsprachigkeit. In dem ‚Roman‘ erfindet der Erzähler entlang von Egodokumenten seine Wahrheit über Franz Kafkas Sterben und widerspricht damit vielen Wissenschaftler- und Biograph_innen, die den Tod Kafkas als Konsequenz seines Dichterseins, seiner Zerrissenheit etc. interpretiert haben. Was uns die Dichterfigur entfremdet, ist dabei die Sprache selbst und zwar gerade die anscheinend authentischen Berichte, die, in Kombination mit den unzuverlässigen Erzählerstimmen die Konstruktion der Figur Kafka offenlegen. Der Kafka des Textes – der als K., als Kafka, als kavka auftritt, der im Erzählen als Kafka gesetzt, erschrieben wird, und zwar in jenen Worten, die die seinen sind, die ihm also vermeintlich vorangehen und doch, zugleich, folgen, sich (auch) als Nach-Schreiben entpuppen – wird wieder aufgelöst, wird fremd. Die Verwirrung der Grenzen von Ursache und Wirkung, Vorher und Nachher, Realität und Fiktion, das Sein zwischen Leben und Tod lässt die Kafka/K.-Figur zum Wanderer, zur Figur des Sowohl-alsauch werden. Das Fremd-Sein Kafkas, die Exilsituation in der Abgeschiedenheit des Sanatoriums sind dabei nicht allein Parabeln auf die Situation exiliert Lebender, wie Sadrs persönliche Lebenssituation nahelegte, sie sind darüber hinaus eine Metapher für menschliche Identitätsfindung generell.
EN
According to Derridas Monolingualism of the Other, Or, The Prosthesis of Origin every person is always multilingual. If we understand this state of non-monolingualism as a general human phenomenon, which the so called ‘exophone literature’ particulary helps us to do, then we understand that to question a stranger’s alienation always means to question our own alienation at the same time. Thus the question of the stranger becomes the question of one‘s own identity. In my article, I analyze this phenomenon by combining Hamid Sadr’s ‘novel’ Gesprächzettel an Dora (1994) and Jacques Derrida’s concept of mono- and multilingualism. In Hamid Sadr’s text the narrator uses egodocuments to invent a truth about Franz Kafka’s death which opposes many literary scholars and biographers who have interpreted Kafka’s death as a consequence of his existence as a poet, his diremption etc. What alienates the literary figure named Kafka from us is the language itself, and first of all the combination of allegedly ‘authentic’ documents with the unreliable narrative voices, thus revealing the constructiveness of ‘Kafka’. The main character Kafka – who within the text is named K., Kafka, kavka and who is introduced into the text by using his ‘own’ words, that supposedly precede him and yet, at the same time, succeed him – is deconstructed. Borders between cause and effect, before and after, reality and fiction, life and death become obsolete thus turning the Kafka/K. figure into a wanderer, a figure of ‘both-and’. Kafka’s situation as a stranger, as a kind of exile in the remoteness of the sanatorium, is not alone a parable on the situation of an exile, as Sadr’s personal life may indicate. Moreover, as I will show, it is a metaphor for human identity in general.

Year

Issue

40

Pages

129-138

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Dates

published
2019-06-15

Contributors

  • Universität Wien, Wien

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